"Kill your darlings."
Jeder Autor kennt diesen Satz. Jeder Autor hasst diesen Satz.
Es ist das literarische Äquivalent zu "Es tut mir mehr weh als dir" – nur dass es diesmal wirklich stimmt. Denn während deine Darlings sterben, stirbt ein kleines Stück von dir mit.
Ursprünglich bedeutete dieser Ausdruck: Lass deine Lieblings-Charaktere sterben, wenn es die Geschichte verlangt. Mit der Zeit weitete die Bedeutung sich aus. Wenn ein Text, eine Szene, ein Dialog noch so schön, noch so poetisch, noch so verdammt brillant ist – falls er nicht zur Geschichte gehört, muss er weg. Ohne Gnade. Ohne Verhandlung.
Ich dachte immer, ich hätte das verstanden. Bis vor drei Wochen.
Der Text, der mir das Herz brach
Ich arbeite gerade an "Lexis Vermächtnis", einer neuen Kurzgeschichte für meine Pfotenbibliothek. Es ist die Geschichte von Lexi – meiner Hündin, die vor ein paar Monaten nach einem langen, erfüllten Leben über die Regenbogenbrücke gehen musste und die auch in meinem Roman "Pfotenpakt" eine kleine Heldin ist.
Als ich anfing zu schreiben, hatte ich bereits einen Text im Kopf. Einen Text, den ich kurz nach ihrem Abschied geschrieben hatte, als der Schmerz noch so frisch war, dass ich nachts nicht schlafen konnte. Einen Text, der mir geholfen hatte, mit dem Verlust umzugehen.
Ich war mir sicher: Das wird der perfekte Prolog für "Lexis Vermächtnis". Emotional, bewegend, ein würdiger Einstieg in ihre letzte Geschichte.
Ich lag falsch.
Wenn das Herz will, was der Kopf verbietet
Drei Wochen lang habe ich an "Lexis Vermächtnis" gearbeitet. Drei Wochen lang stand dieser Text als Prolog am Anfang. Und drei Wochen lang nagte etwas an mir.
Die Geschichte funktionierte nicht.
Es war, als würde ich versuchen, ein Puzzleteil in ein fertiges Bild zu zwängen. Der Prolog war wunderschön, aber er passte einfach nicht zu der Geschichte, wie sie sich entwickelt hatte. Er hätte den natürlichen Fluss und die Überraschungen der Erzählung gestört.
Manchmal musst du deine schönsten Texte opfern, nicht weil sie schlecht sind, sondern weil sie an der falschen Stelle stehen.
Die Erkenntnis traf mich wie ein Schlag in die Magengrube: Mein wunderschöner Text musste sterben. Zumindest hatte er keinen Platz in dieser Geschichte.
Das härteste "Delete" meines Lebens
Ich starrte zehn Minuten lang auf den Bildschirm. Meine Hand schwebte über der Tastatur. Strg+A. Entf.
Zwei Tasten. Das war alles, was zwischen meinem Text und dem digitalen Nirwana stand.
"Es ist nur ein Text", sagte ich mir. "Du kannst ihn woanders verwenden."
Aber es war nicht nur ein Text. Es fühlte sich ein bisschen so an, als sei der Text meine letzte Verbindung zu Lexi.
Trotzdem. Es musste sein.
Ich drückte die Tasten.
Warum tote Darlings manchmal auferstehen dürfen
Nur weil ein Text nicht in eine Geschichte gehört, heißt das nicht, dass er nicht existieren sollte. Manchmal brauchen unsere "Darlings" nur einen anderen Ort zum Leben.
Deshalb teile ich "Lexis Stimme" hier mit euch. Nicht als Teil einer Geschichte, sondern als das, was er wirklich ist: Eine Botschaft von einer Hundeseele an ihr Frauchen. Ein Trost für alle, die schon einmal Abschied nehmen mussten. Ein Beweis dafür, dass Liebe den Tod überlebt.
Lexis Stimme
Der Regen trommelte sanft gegen die Fensterscheibe, ein gleichmäßiges Klopfen, das den Raum mit seinem beruhigenden Rhythmus füllte. Die Welt draußen verschwamm hinter einem Schleier aus Wasser, als würde sie sich für einen Moment zurückziehen, um Platz für etwas anderes zu machen.
Katharina saß auf der Couch, die Hände um eine längst kalt gewordene Kaffeetasse geklammert. Ihr Blick war auf den leeren Platz neben der Heizung gerichtet, wo noch vor kurzem Lexis Körbchen gestanden hatte. Die Tränen waren endlich versiegt, aber die Leere blieb, ein schmerzhaftes Loch, das sich durch ihre Brust fraß.
Ein warmer Lufthauch strich plötzlich durch den Raum, obwohl alle Fenster geschlossen waren. Er fühlte sich anders an als die übliche Heizungsluft – leichter, lebendiger. Fast wie ein Atemzug.
Und dann war da dieses Gefühl. Nicht greifbar, nicht sichtbar, aber so deutlich spürbar wie die Couch unter ihr. Eine Präsenz, die den Raum mit einer vertrauten Energie füllte.
Lexi?
Es war ein alberner Gedanke. Natürlich konnte Lexi nicht hier sein. Und doch...
Die Luft im Raum schien zu vibrieren, als würde sie von einem unhörbaren Summen erfüllt. Katharina schloss die Augen, ließ die Tasse los und legte die Hände in den Schoß. Und in dieser Stille, in diesem Moment zwischen den Gedanken, hörte sie es – nicht mit ihren Ohren, sondern irgendwo tief in ihrem Inneren.
Frauchen! FRAUCHEN! Da bist du ja! Ich hab dich ÜBERALL gesucht!
Die Stimme war aufgeregt, ein bisschen zu laut, ein bisschen zu schnell – genau wie Lexi immer gewesen war. Ein Wirbelwind aus Energie und Begeisterung.
Oh, du weinst. Nicht weinen! Nicht weinen! Ich bin doch hier! Siehst du? HIER! Genau HIER bin ich!
Die Stimme klang fast ein bisschen empört, als könnte sie nicht verstehen, warum Katharina traurig war, wenn doch alles in Ordnung war.
Es geht mir GUT, Frauchen! SO gut! Weißt du, wie es sich anfühlt? Als hätte ich... als hätte ich... ALLE LECKERLIS DER WELT auf einmal bekommen! Und meine Pfote tut nicht mehr weh und mein Bauch auch nicht und ich kann wieder RENNEN, Frauchen! So schnell wie früher! Schneller sogar!
Ein Hauch von etwas, das sich anfühlte wie aufgeregtes Hecheln, erfüllte den Raum.
Ich weiß, dass du traurig bist. Ich spüre es. So wie Nala es immer gespürt hat. Ist das nicht komisch? Jetzt kann ich es auch! Aber du musst nicht traurig sein. Wirklich nicht.
Die Stimme wurde etwas ruhiger, nachdenklicher – ein seltener Zustand für Lexi.
Weißt du noch, wie ich immer Angst hatte? Vor ALLEM? Vor Gewittern und vor lauten Geräuschen und vor fremden Hunden und vor dem Tierarzt und vor... eigentlich vor ALLEM? Jetzt habe ich keine Angst mehr. Gar keine. Ist das nicht TOLL?
Ein kurzes Schweigen, dann wieder diese übersprudelnde Energie.
Und weißt du, was das Beste ist? Ich kann immer bei dir sein! IMMER! Auch wenn du mich nicht siehst. Ich passe auf dich auf, so wie du immer auf mich aufgepasst hast. Wenn du traurig bist, bin ich da. Wenn du glücklich bist, bin ich AUCH da! Ich bin IMMER da!
Die Präsenz im Raum schien näher zu kommen, fast so, als würde sich ein warmer Körper an Katharinas Beine schmiegen.
Es war richtig, Frauchen. Was du getan hast. Es war genau richtig. Ich wollte nicht mehr in diesem kranken Körper sein. Es tat so weh, und ich war so müde. SO müde. Aber ich wollte nicht gehen, weil ich wusste, dass du traurig sein würdest. Ich wollte bei dir bleiben.
Ein leises, fast entschuldigendes Winseln.
Aber jetzt ist alles gut! Ich bin immer noch bei dir, nur... anders. Besser! Ohne Schmerzen! Und ich kann dich ÜBERALLHIN begleiten! Zum Einkaufen und zum Spazierengehen und sogar ins Bad!
Ein aufgeregtes Kläffen, das mehr in Katharinas Herzen als in ihren Ohren widerhallte.
Oh! Und ich habe hier andere Hunde getroffen! Und Katzen! Stell dir vor, ich habe sogar mit einer KATZE gespielt! Wie in unserem Buch mit Schnurri! Ist das nicht VERRÜCKT? Ich habe keine Angst mehr vor ihnen!
Die Stimme wurde wieder sanfter, fast zärtlich.
Ich vermisse dich auch, Frauchen. Aber nicht so, dass es wehtut. Es ist mehr wie... wie wenn du nur kurz einkaufen gehst und ich weiß, dass du wiederkommst. Weil wir uns wiedersehen werden. Ganz bestimmt!
Ein warmer Hauch strich über Katharinas Wange, fast wie eine tröstende Berührung.
Und bis dahin... bis dahin passe ich auf dich auf. Von hier aus. Ich bin dein Schutzengel! Mit VIER Pfoten! Ist das nicht lustig? Ein Schutzengel mit Pfoten!
Die Energie im Raum veränderte sich, wurde ruhiger, konzentrierter – so wie Lexi, wenn sie etwas ganz Wichtiges mitteilen wollte.
Frauchen, es ist okay zu weinen. Wirklich. Ich verstehe das. Aber vergiss nicht zu lachen, ja? Du hast so ein schönes Lachen. Und wenn du lachst, dann... dann ist es, als würde die Sonne aufgehen. Auch für mich.
Ein letztes sanftes Stupsen, wie eine kalte Hundenase an der Hand.
Ich muss jetzt gehen. Aber nicht wirklich WEG-gehen. Ich bin immer da. Immer in deiner Nähe. Und wenn du an mich denkst, dann... dann ist es, als würdest du mich rufen. Und ich komme SOFORT angerannt! Versprochen!
Die Präsenz begann zu verblassen, aber nicht vollständig. Es war mehr, als würde sie einen Schritt zurücktreten, immer noch da, nur nicht mehr ganz so nah.
Ich liebe dich, Frauchen. Mehr als ALLE Leckerlis der Welt. Mehr als Gassi-Gehen und Bauch-Kraulen und sogar mehr als KÄSESTÜCKCHEN! Und das will was heißen!
Ein letztes aufgeregtes Kläffen, dann wurde die Energie im Raum wieder ruhiger, verschmolz mit dem sanften Trommeln des Regens am Fenster.
Katharina öffnete langsam die Augen. Die Kaffeetasse in ihren Händen war kalt, aber ihr Herz fühlte sich wärmer an. Sie blickte zum leeren Platz neben der Heizung und lächelte unter Tränen.
"Ich liebe dich auch, Lexi", flüsterte sie in den stillen Raum. "Mehr als alles auf der Welt."
Der Regen draußen hatte nachgelassen, und ein einzelner Sonnenstrahl brach durch die Wolken, fiel durch das Fenster und malte ein goldenes Muster auf den Boden – genau dort, wo Lexis Körbchen gestanden hatte.
Wenn Enden zu Anfängen werden
Dieser Text gehört nicht in meine nächste Kurzgeschichte "Lexis Vermächtnis". Aber er gehört zu Lexi. Und zu allen, die verstehen, dass Liebe stärker ist als der Tod.
"Lexis Vermächtnis" erzählt eine andere Geschichte – eine Geschichte über das Leben, das weitergeht, über neue Abenteuer und darüber, wie die Liebe, die wir geben, in der Welt weiterwirkt. Die komplette Kurzgeschichte findet ihr demnächst exklusiv in meiner Pfotenbibliothek, zusammen mit anderen Geschichten, die es nur dort gibt.
Manchmal müssen wir unsere Darlings töten, damit bessere Geschichten leben können. Aber manchmal finden sie auch einfach nur ein neues Zuhause.
Wie Lexi.