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Warum Therapeuten und Berater nicht perfekt sein müssen

Kürzlich habe ich zur Entspannung mal wieder einige alte Folgen von Grey’s Anatomy angeschaut. Dabei hat mich eine Szene zwischen Meredith Grey und Ihrem Therapeuten ganz besonders angesprochen:

Bild aus Grey's Anatomy, Staffel 14, Folge 3

Meredith Grey: Sie tragen immer noch Ihren Ehering. Ich verbringe Wochen in Ihrer Praxis und höre auf Ihren Rat. Sie sind ein größerer Chaot als ich.

Walter Carr: Wir lehren das am besten, was wir selbst am dringendsten lernen müssen.

Denn das passt sehr gut zu einer Frage, die viele Berater, Psychotherapeuten, wie auch Patienten oft beschäftigt: Wie perfekt muss ein Therapeut sein?
Kann ich mich von jemandem beraten lassen, der raucht wie ein Schlot und frisch geschieden ist?
Sollte ich mir anmaßen, jemanden therapieren zu wollen, wenn ich selbst Probleme mit meinem Kind und meiner Ehe habe?

Vor allem Anfänger im Bereich Beratung und Therapie machen sich oft Sorgen, ob sie auch wirklich in der Lage sind, jemanden zu beraten, wo sie doch in ihrem eigenen Leben noch so viele “Baustellen” haben (das betrifft übrigens viel häufiger Frauen, als Männer). Erst vor einigen Monaten habe ich mit einer Klientin gearbeitet, die ein äußerst einfühlsamer Mensch ist, eine großartige Ausbildung hat und ganz sicher vielen Menschen helfen kann. Doch sie zögerte sehr lange, absolvierte eine Weiterbildung nach der anderen und konnte dennoch den Mut nicht finden, sich endlich selbständig zu machen und Ihre Praxis zu eröffnen.
Und das ist unglaublich schade.

Denn natürlich ist es völlig richtig, dass man sich selbst sehr genau beobachten muss, wenn man im Bereich Therapie und Beratung arbeitet. Es ist zwingend notwendig, dass mein seine eigenen “Baustellen” kennt. Denn nur dann kann man verhindern, dass die eigenen Probleme sich negativ auf die Arbeit auswirken. Dass man vielleicht eigene Ängste, Frustrationen, Glaubenssätze oder Wünsche auf den Klienten überträgt. Und dabei möglicherweise die Bedürfnisse und Probleme des Klienten aus dem Blick verliert.

Man muss also natürlich über ein entsprechendes Maß an Selbstreflektion verfügen. Man muss wissen, wenn man selbst Probleme hat. Man muss darauf achten, inwieweit diese Themen einen Einfluss auf die Beratungsarbeit haben. Und sobald man feststellt, dass man Gefahr läuft, privates und berufliches zum Nachteil des Klienten zu vermischen - muss man die Notbremse ziehen. Doch selbst wenn man die Notbremse noch ziehen kann (also die Zusammenarbeit beendet), hat man meist dem Klienten schon geschadet. Denn dieser hat sich voller Vertrauen an einen gewendet, hat sich vielleicht geöffnet und Dinge über sich erzählt, die ihm schwergefallen sind. Wenn dann plötzlich der Therapeut sagt, er können nicht mehr mit dem Patienten arbeiten und müsse ihn an jemand anderen verweisen - dann kann sich das desaströs auf den Patienten auswirken. All die Arbeit umsonst. All die Überwindung, jemandem zu vertrauen und dann so etwas? Der eine oder andere Patient wird dann vielleicht aufgeben und sich keine Hilfe mehr suchen. Weil es ja “sowieso nichts nützt”.
Das darf nicht passieren.

Das mag sich selbstverständlich anhören, ist es jedoch leider nicht.
Aus eigener Erfahrung im Familienkreis gibt es sogar renommierte Psychotherapeuten, die nicht merken, wie sehr ihre eigenen Probleme ihr Urteilsvermögen trüben und ihren Umgang mit dem Patienten beeinflussen. Die Gründe hierfür reichen von Arroganz über Betriebsblindheit bis hin zu Gleichgültigkeit.

Dennoch darf man aus alldem nicht den falschen Schluss ziehen, dass man kein guter Therapeut oder Berater sein kann, wenn man eigene Probleme hat.
Denn die haben wir alle.

Es gibt niemanden, der ohne Schwierigkeiten, Probleme, Hindernisse und Rückschläge durchs Leben geht. Und wenn ich weiß, wie sich diese dunkle Tiefe einer Depression anfühlt; wenn ich das Gefühl lähmender Angst kennengelernt habe oder wenn ich diesen tiefen Schmerz von Trauer und Verlust in meinem eigenen Leben spüren musste; oder wenn ich einfach nur ein schrecklicher Chaot bin, der es nicht schafft, irgendwelche Termine einzuhalten - dann kann ich mich in meinen Klienten mit ähnlichen Problemen einfühlen. Dann kann ich nachvollziehen, wie es ihm geht und warum er tut, was er tut. Dann kann ich verstehen, warum er oder sie bisher aus eigener Kraft das Problem noch nicht überwinden konnte.

Und jeder der weiß, wie leicht es ist, die eigenen Probleme zu verdrängen, indem man der Versuchung nachgibt, sich selbst mit völlig ungeeigneten Mitteln “da durch zu helfen” (egal ob das Rauchen, Alkohol, TV-Sucht oder ein Putz- oder Sportzwang ist), wird mehr Verständnis für die entsprechenden Probleme bei seinen Patienten aufbringen können.

Und genau darum muss ein guter Therapeut oder Berater nicht perfekt sein.
Er muss sich aber der eigenen Fehler, Schwächen und Probleme bewusst sein.
Denn dann kann er dieses Wissen und das daraus folgende Verständnis zum Vorteil des Klienten einsetzen.

Genau wie Dr. Carr es in Grey’s Anatomy zu Meredith Grey gesagt hat:
Wir lehren das am besten, was wir am dringendsten lernen müssen